Samstag, Mai 20, 2006

Aber nur bis zur Abendschau (1)

Der relativ kleine Ort war bis zu Stadterhebung am 25.06.1977 das größte Dorf Süddeutschlands. Jedenfalls in meiner Erinnerung. Beweise habe ich dafür leider nicht.

Die Menschen waren sehr freundlich - wie es bei den Schwaben eben so üblich ist - und jeder kannte jeden. Wir wohnten im Musikerviertel. So wurde der Teil der Stadt genannt, in dem die Strassen nach berühmten Komponisten benannt wurden.
Beethoven - Mozart - Wagner - Haydn - Bruckner.

Ganz in der Nähe war der letzte Bauernhof mit Tierhaltung. Die restlichen Höfe wurden wohl aus mangelnder Rentabilität nach und nach aufgegeben.
Und es gab zu der Zeit auch noch ein Lebensmittelgeschäft, in dem die Milch offen verkauft wurde. In eine mitgebrachte Milchkanne wurde Milch abgefüllt, welche damals noch täglich frisch aus einer Molkerei angeliefert wurde.

"Grüß mir jeden Menschen auf der Straße", hatte meine Oma immer gesagt, wenn ich aus dem Haus ging. Natürlich habe ich nicht jeden gegrüßt - meistens wurde ich angesprochen. Man kannte mich eben als den Jungen, der bei seiner Oma lebt.

So auch in der Bäckerei, bei der ich regelmäßig unser frisches Brot - quasi direkt aus der Backstube - gekauft habe. "Was macht die Oma? Lebt sie noch?", fragte mich die dicke alte Dame hinter dem Tresen jedesmal, wenn ich im Laden war.
Ihre dicken Beine konnten ihr Gewicht kaum tragen und sie quälte sich schwer atmend an das Brotregal, um mir das bestellte Schwarzbrot zu holen.
"Die Oma mags nicht zu dunkel, gell? Sag ihr einen schönen Gruß."
Früher ist die Oma ja noch mitgegangen, aber irgendwann machten das ihre Beine nicht mehr mit. So stand sie den ganzen Tag zu Hause am Fenster und beobachtete, was in unserer Strasse passierte.

Entlang meines Schulweges verlief der Mühlbach, der sich durch den ganzen Ort schlängelte.
Man konnte eine Menge entdecken, wenn man sich seinem Verlauf folgend stromabwärts bewegte. Da waren viele Brücken unter denen man herumklettern konnte. Nicht unter allen - aber bei manchen war das durchaus möglich. In unserer Phantasie waren das dann Piratenschiffe, Uboote oder sonstige Schauplätze lebensgefährlicher Einsätze und Weltrettungsaktionen.

Einmal haben wir uns aus alten Autoschläuchen ein Floß gebaut und sind damit auf große Fahrt gegangen. Die Reifen waren eine Leihgabe - wenn wir versprachen, sie beim Reifenhändler zur Entsorgung wieder abzugeben. Ein paar Bretter und Seile vom Sperrmüll und schon wurde daraus ein seetaugliches Abenteuerfahrzeug.

Den ganzen Tag waren wir unterwegs und sind abends, aus Mangel an Strömungsgeschwindigkeit, nur am anderen Ende der Stadt angekommen.
In unseren Köpfen jedoch erlebten wir Geschichten rund um die christliche Seefahrt, einer Dschungelexpedition und waren auf Entdeckungsreise im fernen Asien.
So langsam brach die Dämmerung herein und wir machten uns auf den Weg nach Hause. Immerhin war es ein ordentliches Stück zu Fuß.

Wir haben wohl ziemlich dumm ausgesehen mit dem ganzen Müll, den wir quer durch die ganze Stadt transportierten. Die Reifen ohne Luft hinter uns hergezogen und die Bretter unter dem Arm, blieben wir alle paar Meter stehen um das Gewicht umzuverteilen. Entsprechend lange hat es gedauert bis wir endlich zu Hause ankamen.

Es war schon dunkel und meine Oma war richtig sauer. Sie hatte sich Sorgen gemacht, weil ich so lange weg war. Normalerweise durfte ich wach bleiben, bis die Abendschau begann. Die war aber schon fast vorbei.

Heute kann ich gut verstehen, warum sie damals so geschimpft hat,
für mich war der Tag aber trotzdem, einer der schönsten meiner Kindheit.

4 Kommentare:

kein einzelfall hat gesagt…

Und die hier war eine der schönsten Bloggeschichten Ihrer Erwachsenenära.

Pe Pe hat gesagt…

Vielen Dank, Madame Einzelfall.
Sie machen mich verlegen.

samoafex hat gesagt…

Ich muss mich Frau Einzelfall anschließen. Eine unsentimentale, sehr gefühlvolle Geschichte. Auch Teil Zwei. Ich denke, ich lese beide gleich noch einmal.

Pe Pe hat gesagt…

Sehr gerne - um gelesen zu werden sind die Geschichten schließlich da.

Weil mir beim Schreiben noch so viele Dinge aus der Zeit eingefallen sind, überlege ich, ob ich nicht eine kleine Serie daraus mache. Mal sehen.